"Angie - Die Prüfung"

Der erste Teil meiner Trilogie.

 

 

 

EINS

 

 

 Ich strecke mich und jeder Knochen und jede Sehne an meinem Körper tut weh. Seit vier Wochen schlafe ich nun schon auf dem provisorischen Bett, was wirklich nur eine einfache Liege ist. Sie steht im Hinterzimmer meines kleinen Geschäftes. Das habe ich vor zwei Monaten eröffnet und nach ein paar Wochen war mir der morgendliche Weg, quer durch ganz Dresden, zu viel. Der Verkehr ist stets nervenaufreibend gewesen und ich hatte einfach keine Lust mehr, ständig im Stau zu stehen.

 Ich bin bei Grace, eigentlich meine Großmutter, die ich aber schon immer so genannt habe, am anderen Ende der Stadt aufgewachsen. Nun habe ich mich jedoch dazu entschlossen, meinen eigenen Weg zu gehen.

 Mit meiner besten und einzigen Freundin Elena habe ich mir den Traum vom eigenen Laden erfüllt.

 Ich sehe mich als Lebensberaterin und so gibt es bei uns alles zu kaufen, was mit Himmel und Hölle zu tun hat. Von Gott, Engeln bis Teufel, von Dämonen bis Elfen. Wir haben Bücher, CD´s und sämtliches Kleinzeug von Amuletten bis hin zu Ratgebern für alle Lebenslagen.

 Zudem halten wir Sitzungen ab, in denen wir mit unseren Kunden mittels Tarotkarten in die Zukunft sehen. Ach, und ein Pendel habe ich auch, aber das kommt eher selten zum Einsatz.

 Am Anfang war es sehr schwer, mit diesem Angebot Fuß zu fassen, denn es gibt wenige Menschen, die an solche Sachen glauben. Laut Volksglaube gibt es paranormale Dinge und Ereignisse eigentlich nicht, oder man kann sie nur schwer erklären. Aber langsam haben wir uns einen Kundenstamm aufgebaut. Die Leute kommen nicht mehr nur neugierig schauen und verlassen dann doch kopfschüttelnd, ohne etwas zu kaufen, unseren Laden, sondern zeigen immer mehr Interesse.

 Das mit den Tarotkarten ist so ein Familiending. Schon meine Urgroßmutter Gina hat es gemacht und auch Grace. Von ihr habe ich es gelernt. Stundenlang habe ich ihr als Kind heimlich zugeschaut, wenn sie ihre Kunden beraten hatte. Als ich vierzehn Jahre alt war, hat Grace begonnen, es mir beizubringen. Sie sagte immer, dass wir alle diese Gabe besitzen und wir vielen Menschen damit helfen können und sollten.

 Elena hat es von mir gelernt und ihr Talent war erstaunlich. Das Kombinieren der Informationen der Karten lag ihr ebenso im Blut wie mir. Ich musste nie lange überlegen, was sie zu sagen haben. Elena brauchte etwas länger, um alles zu verstehen, aber jetzt ist sie fast genauso perfekt darin wie ich.

 Unser Interesse weitete sich noch aus und wir sammelten alles, was mit Übersinnlichem und Paranormalem zu tun hat. Irgendwann wurde es so viel, dass wir uns entschieden, damit einen beruflichen Weg einzuschlagen. So kamen wir letztendlich zu unserem Laden. Es ist ein kleines Geschäft mit zwei Hinterzimmern. In Absprache mit unserem Vermieter haben wir alles so umfunktioniert, damit es unseren Vorstellungen gerecht wurde. Das eine Hinterzimmer ist der Beratungsraum, wo wir Sitzungen mit den Kunden abhalten und das andere mein kleines Wohndomizil. Dahinter haben wir noch ein winziges Bad, mit einer Dusche in der man sich zwar kaum drehen kann, aber für unsere Ansprüche reicht es aus. Meistens sind es sowieso nur meine.

 Ich habe mich aus meinem primitiven Bett heraus gequält, war eben unter der sogenannten Dusche und meine Muskeln haben sich auch etwas entspannt. Ich mache mir einen Kaffee und schwelge weiter in meinen Gedanken. Während ich darauf warte, dass die Maschine fertig wird, fällt mein Blick auf die wenigen Fotos, die ich hier neben meinem Bett stehen habe. Es sind ziemlich alte Fotos. Auf dem Ersten ist meine Urgroßmutter Gina mit Grace und meiner Mutter als Baby auf dem Arm. Das zweite zeigt Grace mit meiner Mutter, die mich als Baby auf den Arm hält. Irgendwie komisch. So viele Jahre liegen zwischen den Bildern, aber sie gleichen sich so, dass man sie verwechseln könnte, wenn man es nicht wüsste, wer da zu sehen ist.

 Mein Blick schweift zu meinem Spiegel und ich sehe wieder, warum es so ist. Jedes Mal bin ich über die Ähnlichkeit, die uns alle vier verbindet, erstaunt.

 Wir alle sehen gleich aus. Ein zartes Gesicht, eingerahmt von rot leuchtenden langen Haaren, die sich in großen Locken um den Kopf schmeicheln. Und dann die grünen Augen, die sich wie Smaragde im Licht spiegeln. Ach ja, die Sommersprossen darf ich nicht vergessen, die ich als Kind verflucht habe und die sich nicht nur auf meiner Nase tummeln. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt und sie gehören einfach zu mir, wie die Gabe, die unsere Familie viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte schon begleitet.

 Manche Menschen sagen, dass wir wie Hexen aus dem Mittelalter aussehen und an dem was wir tun, oder meine Ahnen getan haben, ist wahrscheinlich sogar etwas Wahrheit daran. Es ist nur gut, dass wir heute leben und die Menschen mit diesem Thema anders umgehen als vor dreihundert Jahren.

 Da gibt es nur eins, was mir bei dem Blick auf das Foto mit meiner Mutter, mich immer wieder sprachlos macht. Ich kenne sie nicht. Ich habe nur dieses eine Bild und da bin ich gerade einmal drei Monate alt. Sie ist einfach verschwunden und deshalb bin ich auch bei Grace aufgewachsen. Grace hat kaum von ihr gesprochen, nur, dass sie unser Familienband durchtrennt hat. Ich habe dies nie verstanden, aber das sollte sich bald ändern.

 In diesem Moment fällt mir der Traum von letzter Nacht wieder ein, den ich gar nicht richtig wahrgenommen habe. Aber plötzlich schlägt er wie Blitz ein. Ich schließe die Augen und er läuft noch einmal wie ein Film vor meinem inneren Auge ab.

 Urgroßmutter Gina steht vor mir. Wunderschön mit ihren roten Haaren und sie sieht mich mit den grünen Augen ernst an, so wie ich es noch nie gesehen habe.

 „Es ist die Zeit gekommen deine Aufgaben in die Hand zu nehmen. Lebe nach unserem Familienvermächtnis. Sieh dich um, deine erste Prüfung ist in dem kleinen Haus, was dir sofort ans Herz wachsen wird.“

 Ihre Worte schallen in meinem Kopf nach und ich öffne meine Augen, um den Traum loszuwerden. Was hat sie damit gemeint? Welche Aufgaben habe ich zu erfüllen? Was für eine Prüfung? Und von welchem Haus hat sie da gesprochen?

 Ja, ich bin auf Wohnungssuche, aber ein Haus? Das könnte ich mir doch niemals leisten.

 Gequält von Ginas Worten gieße ich mir den Kaffee ein und setze mich etwas benommen an den kleinen Tisch. Nach dem zweiten Schluck höre ich, wie die Ladentür aufgeschlossen wird.

 „Hallo Angie, bist du schon munter?“, ruft Elena und ich bin glücklich, dass sie da ist.

 Nicht nur weil sie mir ein frisches Milchbrötchen vom Bäcker mitbringt, nein, sie ist morgens immer so aufgedreht, dass sie mich in Handumdrehen auf andere Gedanken bringt. Und das ist heute genau richtig.

 „Ich trinke gerade einen Kaffee. Möchtest du auch einen?“, rufe ich nach vorn und stehe gleichzeitig auf, um ihre Tasse aus dem Schrank zu holen.

 „Ja klar, sonst komme ich doch nicht auf Touren“, antwortet sie und ich muss lachen, denn um auf Touren zu kommen, braucht sie garantiert keinen Kaffee.

 „Du siehst heute aber mitgenommen aus. Ein anständiges Bett würde dir guttun“, sagt sie und steht mit einer Tüte Brötchen vor mir.

 „Na, vielen Dank auch“, kontere ich, kann ihr aber nicht sagen, oder ich will es nicht preisgeben, warum ich nicht gut geschlafen habe. Am Bett hat es diesmal zumindest nicht allein gelegen.

 Ich reiche ihr den Kaffee und wir setzen uns gemeinsam an den Tisch. Mit einem Brötchen in der Hand sieht mich Elena immer wieder aufmerksam an.

 Sieht man mir etwa an, dass ich etwas Merkwürdiges geträumt habe? Oder wartet sie auf eine Erklärung von mir?

 „Was ist? Habe ich etwas im Gesicht?“, frage ich gerade heraus und greife an meine Nase, damit sie meine Aufgeregtheit nicht erkennt.

 „Nein, aber du solltest wirklich einmal darüber nachdenken, ob das hier ein richtiges Zuhause ist“, antwortet Elena mit besorgter Stimme.

 „Ja, ich weiß. Ich werde mich darum kümmern.“

 „Na ja, einen Katalog hast du dir ja schon mal besorgt“, lächelt Elena mir zu.

 „Welchen Katalog?“

 „Na, der da vorn auf der Ladentheke liegt.“

 „Den hat mir bestimmt jemand hingelegt. Ich habe mir keinen besorgt“, sage ich und würde am liebsten aufspringen, aber meine Beine verweigern mir den Dienst, denn irgendetwas stimmt hier nicht.

 „Du hast ja dann Zeit darin mal zu blättern. Ich habe gleich eine Sitzung und du bist ungestört.“ Elena trinkt ihren Kaffee aus, zupft noch einmal ihre schwarzen, glänzenden Haare und verschwindet nach vorn.

 Ich bleibe wie angewurzelt sitzen und überlege, wie der Traum, der Katalog und meine verdammten Rückenschmerzen, die plötzlich wieder da sind, zusammen passen. Ich komme nicht darauf. Ich kann keine Verbindung finden und momentan auch keinen klaren Gedanken mehr in meinem Kopf formen.

 „He, dass Häuschen sieht niedlich aus. Könnte mir auch gefallen. Und da sagst du, du hast den Katalog noch gar nicht gesehen, aber die entsprechende Seite schon markiert“, ruft Elena begeistert und mir verschlägt es vollkommen die Sprache.

 Ich kann mich immer noch nicht rühren. Mein Körper ist wie gelähmt und mein Kopf leer wie eine Blase.

 Elena begrüßt ihre Kundin und meldet sich bei mir ab, was heißt, wenn jetzt der Türgong erklingt, muss ich vor in den Laden. Hoffentlich kommt nicht so schnell jemand.

 „Deine Aufgabe! Familienvermächtnis! Die erste Prüfung!“, Ginas Worte hämmern in meinem Kopf und ich kann einfach nichts dagegen tun.

 

 

 

 

 

ZWEI

 

 

 Langsam versuche ich, meine Beine zu bewegen. Die Schmerzen durchzucken meinen Körper und ich streiche mit meinen Händen gegen den Krampf in meiner Wade an. Es dauert ein paar Minuten, bis ich endlich auf meinen Füßen stehe. Ich spüle die Tassen ab, was ich eigentlich immer erst am Mittag tue, aber ich schinde Zeit, um nicht in den Laden gehen zu müssen.

 Ich finde nichts mehr, mit dem ich mich ablenken könnte und gehe endlich nach vorn. Ich nähere mich mit kleinen Schritten der Ladentheke und sehe schon von weitem den Katalog, den Elena erwähnt hat. Er ist aufgeschlagen und die oberste Ecke ist zu einem Eselsohr umgeknickt. Irgendjemand hat diese Seite so markiert, wie sie es sagte.

 Skeptisch und vorsichtig zugleich gehe ich darauf zu und schaue mir das Häuschen auf der Seite an. Es ist ein kleines Einfamilienhaus. Es sieht sehr hübsch aus und der Garten davor ist mit bunten Blumen übersät. Ich führe zögernd meine Hand nach vorn und will den Katalog zuschlagen. Aber irgendetwas hält mich davon ab. Meine Hand schwebt über dem Papier und ich kann meine Finger nicht bewegen. Ich reiße meinen Blick von dem Bild des Hauses weg, atme tief und lang durch und versuche noch einmal, den Katalog zu schließen. Mit einem Ruck in die Richtung gelingt es mir, gleichzeitig packe ich ihn und schiebe ihn unter den Ladentisch. Er ist aus meiner Sichtweite und etwas Ruhe zieht bei mir ein.

 Warum hat mich das jetzt so aufgeregt? Warum konnte ich den Katalog nicht einfach schließen? Wer hat ihn überhaupt dahin gelegt und die Seite markiert? Und warum soll ich mir dieses Haus anschauen? Hat Elena ihn vielleicht doch mitgebracht? Aber warum sollte sie das tun, denn sie weiß ja, dass ich mir nur eine kleine Wohnung leisten kann.

 Gina! Prüfung! Ich muss immer wieder an diese Worte denken. Hat etwa Gina ...? Aber wie sollte das denn gehen? Sie hatte zwar einige unheimliche Fähigkeiten, die ich selbst als Kind mitbekommen habe. Aber sie ist seit vielen Jahren tot. Dass ich von ihr träume, ist für mich verständlich, aber dass sie von dem Ort aus, wo immer sie auch ist, Einfluss auf mein Leben haben soll, kann ich irgendwie nicht glauben.

 Ich schüttele die Gedanken ab und gehe in den anderen Teil unseres Geschäftes. Dort stehen noch zwei Kisten mit Büchern, die ich gestern nicht mehr ausgeräumt habe. So mache ich mich daran, kurz in jedes Buch hineinzulesen und es dann an die entsprechende Stelle im Regal einzuordnen. Ich bin voll konzentriert auf ein Buch mit Nahtoderlebnissen, als es hinter mir raschelt. Der Türgong ist nicht erklungen, also habe ich es nicht verpasst, dass jemand in den Laden gekommen ist. Ein kalter Schauer huscht über meinen gesamten Körper und ich fange an zu zittern, als wäre es plötzlich zehn Grad kälter.

 Ich lege das Buch zur Seite, schlinge die Arme um den Körper und beginne mit reibenden Bewegungen die Oberarme zu massieren, damit mir wieder wärmer wird.

 Mit einem unheimlichen Gedanken, was das gewesen sein könnte, drehe ich mich um und erstarre. Mein Blick ist an dem Katalog gefesselt, der wieder auf dem Ladentisch liegt. Wie ist er dahin gekommen? Ich bin doch allein im Geschäft. Was läuft hier ab?

 Das Zittern hat aufgehört, aber es hat sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend eingestellt. Mir ist plötzlich richtig übel und ich gehe, ohne den Blick vom Ladentisch zu nehmen, in die Küche. Erst dort kann ich mich aus dem Zwang befreien und stelle den Wasserkocher an, um mir einen Tee aufzubrühen.

 Während das Wasser zu kochen beginnt, gehe ich wie von einem Faden gezogen, wieder nach vorn. An der Theke bleibe ich stehen und das Bild von dem Haus bohrt sich in meinen Kopf. Mit letzter Kraft kann ich den Katalog greifen und wieder unter der Theke verschwinden lassen. Als ich das geschafft habe, schleppe ich mich zurück und gieße meinen Tee auf. Vollkommen fertig sitze ich an dem Tisch, als Elena um die Ecke kommt.

 „Was ist mit dir los? Du siehst aus, als hätte dich ein Geist erschreckt“, fragt Elena einerseits besorgt, aber auch etwas belustigt.

 „So was ähnliches“, antworte ich kurz, denn ich weiß nicht, wie ich ihr das erklären soll.

 Elena macht sich auch einen Tee und setzt sich zu mir. Sie legt ihre Hand auf meine und ich zucke erschrocken zusammen.

 „He, die ist ja kalt wie ein Eiszapfen.“

 „Der Katalog ...“, beginne ich zu stottern.

 „Ich habe ihn wirklich nicht mitgebracht. Der lag schon da, als ich gekommen bin“, sagt Elena das fast entschuldigend.

 „Ich habe ihn zugemacht und unter den Ladentisch gelegt. Aber dann ...“, versuche ich es weiter.

 „Was dann?“

 „Er lag einfach wieder oben auf dem Tisch. Ich habe mich nur umgedreht und ein paar Bücher einsortiert“, erkläre ich.

 „Etwas komisch, oder?“ Elena sieht mich skeptisch an.

 „Komisch? Eher unheimlich“, flüstere ich.

 „Du willst mich aber jetzt nicht veralbern?“ Elena spricht auch so leise, dass ich sie kaum verstehe, als würde uns jemand zuhören und er es nicht wissen sollte.

 „Nein. Warum sollte ich das tun?“, sage ich jetzt richtig laut und diesmal zuckt Elena zusammen.

 „Okay, ist ja gut“, erwidert Elena, steht auf und redet dann weiter: „Machen wir mit den Büchern zusammen weiter?“

 „Ja, das können wir. Gehe schon vor, ich komme gleich nach“, antworte ich und warte darauf, dass sie geht.

 Erst jetzt nehme ich meine Hände wieder nach oben, die ich kalt und zitternd unter meinen Oberschenkeln geschoben hatte. Das Zittern ist weg, aber mir ist immer noch kalt und das nicht nur an den Händen. Ich hole mir eine Jacke und schlinge sie um meinen Körper. Augenblicklich fühle ich mich mollig warm und geborgen. So gehe ich zu Elena in den Laden, bemerke beruhigt, dass der Katalog noch immer unter dem Tisch liegt und nehme das nächste Buch aus dem Karton.

 Engel. Ja, ein Engel müsste man sein. Frei von allen Sorgen des Lebens, an verschieden Orten gleichzeitig sein, Menschen helfen und einfach nur glücklich durch die Welt fliegen. Ist das wirklich so? Sind Engel wirklich frei? Und können sie fliegen?

 Das Buch scheint mir die Antworten geben zu können und so lese ich immer weiter. Total versunken in dem Geschriebenen bemerke ich nicht, wie Elena vorsichtig ihr Buch beiseitelegt und mich ängstlich von der Seite anschaut.

 „Angie“, flüstert sie und stößt mich sacht an.

 Ich sehe zu ihr auf und mir wird gleichzeitig unwohl. Elenas Gesicht hat jegliche Farbe verloren und ihre Augen sind weit aufgerissen. Ihr Mund ist geöffnet, aber es kommen keine weiteren Worte heraus. Langsam folge ich ihrem Blick und er bleibt fast wie erwartet am Ladentisch hängen. Der Katalog liegt wieder oben und die gewisse Seite ist aufgeschlagen.

 „Er ist einfach nach oben geschwebt“, sagt Elena, ohne dass ich sie danach gefragt habe.

 Geschwebt? Ich glaube, Elena hat sich verguckt. Aber so wie sie in die Richtung starrt, kann es nur die Wahrheit sein.

 „Ein Katalog kann nicht fliegen“, bemerke ich ironisch, aber von Elena kommt darauf keine Reaktion.

 „Er ist geschwebt“, beharrt sie nach einigen Sekunden auf ihre Version.

 „Elena, hast du noch mehr gesehen?“, frage ich und mir kommt meine Frage plötzlich selbst albern vor.

 „Ja“, flüstert sie so leise, dass ich es fast nicht gehört habe.

 Ich meinte es als Scherz, aber Elena hat es nicht bemerkt. Ganz im Gegenteil. Ihre Augen sind jetzt zusammengekniffen und sie beginnt zu schwanken. Sofort greife ich nach ihrem Arm und helfe ihr, sich auf den Hocker, der neben ihr steht, zu setzen. Ich beobachte sie eine Weile und überlege, was sie wohl noch gesehen hat. Einen schwebenden Katalog und dann noch etwas anderes. Aber was? Frage ich sie danach? Will ich es überhaupt wissen? Ja, das will ich! Denn irgendetwas stimmt hier nicht und wenn ich nicht weiß, was es ist, dann kann ich keine Nacht mehr ruhig schlafen.

 „Elena“, sage ich einfühlsam, knie mich vor ihr nieder und nehme ihre Hände in die meinen. Sie sieht mich nicht an und so rede ich einfach weiter: „Was hast du gesehen?“

 „Ein ganz zartes und seichtes Licht. Es war hinter der Theke“, kommt von ihr und ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

 „Kannst du es etwas genauer beschreiben?“, frage ich und spüre, dass wir nicht allein im Raum sind.

 Mein Blick schweift herum, aber ich kann nichts entdecken. Was war das eben? Ein kalter Hauch, der mich streifte und das Gefühl, dass jemand hinter mir steht.

 „Da ist es wieder“, sagt Elena und ihre Hände, die ich immer noch halte, beginnen zu zittern.

 Ich stehe auf und drehe mich zum Eingang. Da ist nichts, aber hinter der Theke ist wahrhaftig etwas. Was zum Teufel ist das? Es steht nicht, es schwebt. Ein sanftes weißes Licht, was die Form eines menschlichen Körpers hat. Ein Geist! Ich habe noch nie so etwas gesehen und kann mir somit nicht sicher sein, dass mein Gehirn sich nicht irrt. Die in Licht gehüllte Gestalt hat die Absicht, auf uns zuzukommen, und schwebt um den Tresen herum. Gleichzeitig packt uns unwillkürlich die Angst und wir verkriechen uns förmlich in die hinterste Ecke des Raumes. Ich halte Elena immer noch fest und sie mich. Wir zittern beide wie Espenlaub und können unsere Augen von dieser Gestalt nicht abwenden. Keiner kann etwas sagen, geschweige vielleicht eine Frage stellen. Es wäre bestimmt besser zu begreifen, wenn wir wüssten, wer es ist, aber wir bleiben stumm.

 Das Licht schwebt zurück, hebt den Katalog an, zeigt uns die entsprechende Seite und legt ihn dann wieder ab. Einige Minuten später, in denen wir kaum atmen, fixiert in dieselbe Richtung starren und wir uns nicht einen Zentimeter bewegen, verschwindet die Gestalt wieder und plötzlich ist es unheimlich dunkel im Raum. Dieser war noch vor kurzem mit Licht durchflutet. Unsere Augen gewöhnen sich erst einmal wieder an das normale Licht unserer Kerzen, die immer brennen, während das Geschäft geöffnet hat.

 „Angie?“ Ich höre die zitternde Stimme von Elena neben mir und versuche zu antworten, aber ich kann es immer noch nicht.

 Meine Gedanken schwirren komplett durcheinander in meinem Kopf herum. Nur eins ist mir momentan wichtig. Bitte jetzt keine Kundschaft! Was würden unsere Kunden sagen, wenn sie uns so sehen? Die beiden, die anderen in schwierigen Lebenslagen helfen, haben die größte Angst vor Geistern. Wie abgedreht!

 Ich versuche meine Beine zu bewegen, lege Elenas Hände in ihren Schoß und stehe langsam auf. Meine Füße halten mich nicht so standhaft, wie ich es gewöhnt bin, aber ich schleppe mich zur Eingangstür und schließe sie ab. Einen großen Bogen um den Ladentisch ziehend, gehe ich zurück zu Elena. Sie sitzt zumindest wieder lockerer da und schaut mich von unten heraus an.

 „Willst du auch einen Beruhigungstee?“, frage ich und bin schon halb in der Küche.

 „Ja, ich komme mit. Ich glaube, wir trinken heute die Packung noch leer“, antwortet Elena und quält sich, ebenso wie ich vor kurzer Zeit, auf die Beine. Schwankend kommt sie hinter mir her und lässt sich total fertig auf einen der Stühle in der Küche fallen.

 Der Wasserkocher ist fast schon heiß und ich hänge zwei Beutel Johanniskrauttee in die Tassen. Die Stille, die uns umgibt, erdrückt mich fast und ich versuche, ihr aus dem Weg zu gehen.

 „Elena, ich habe es auch gesehen. Wenn du darüber reden willst?“, sage ich, stelle ihr die Tasse hin und setze mich ihr gegenüber. Sie schaut nur kurz hoch und ihre Augen sind immer noch voller Angst.

 „Weißt du, wer es war?“, will sie ohne Umschweife wissen.

 Woher soll ich das aber wissen? Wer könnte denn Interesse daran haben, dass ich mir das Haus ansehe? Das ist wahrscheinlich der Plan des Geistes. Aber warum? Hat der Geist etwas mit dem Haus zu tun? Dann will ich nichts damit zu tun haben. Denn das was wir gerade erlebt haben, reicht mir vollkommen.

 „Angie? Ich will, dass du dir das Haus nur einmal ansiehst. Entscheide später, ob du dich der Prüfung stellen willst oder nicht.“

 Ich schaue mich um, aber kann niemanden sehen. Elena beobachtet mich argwöhnisch und ich frage mich, ob sie das vielleicht auch gehört hat.

 „Was ist denn los, Angie?“

 „Ich glaube, ich habe etwas gehört“, antworte ich ehrlich und versetze sie damit wieder in eine Starre aus purer Angst.

 „Und was?“

 „Erst hatte ich einen Traum“, beginne ich und hole etwas aus, um es ihr verständlicher zu machen. „Meine Urgroßmutter Gina. Ich habe von ihr geträumt und sie will, dass ich meiner Bestimmung folgen soll und die erste Prüfung ins Haus steht.“

 „Haus?“ Elena klingt nun gar nicht mehr so verwirrt.

 „Man sagt das doch nur so“, gebe ich von mir.

 „Deine Urgroßmutter war eine ziemlich Große in dem, was sie getan hat.“

 „Ja. So weit ich weiß, konnte sie viel mehr als nur Karten legen. Aber Grace hat mir nie viel darüber erzählt. Ich glaube, sie will mich schützen“, sage ich mehr zu mir selbst, als zu Elena.

 „Der Geist vorhin, war das deine Urgroßmutter?“ Sie sieht mich fragend an.

 „Ich denke ja. Gerade eben habe ich sie in meinem Kopf gehört. Wie das möglich ist weiß ich nicht, aber es klang klar und deutlich. Sie will, dass ich mir das Haus wenigstens einmal anschaue.“

 „Angie, dann tu es doch einfach. Ein Blick auf das Haus kann doch nicht schaden.“ Elena nimmt meine Hände und hält sie zärtlich fest.

 „Was könnte dort auf mich zukommen? Was ist die Prüfung? Werde ich sie bestehen? Und warum überhaupt soll ich das tun?“ Fragen, die ich unwillkürlich laut ausspreche.

 „Deine Bestimmung. Was beinhaltet sie?“

 „Ich weiß es selbst nicht. Ich kann es dir nicht sagen. Grace hat nie von so etwas gesprochen und nur sie hatte mein Leben bis vor kurzem in der Hand.“

 „Dann rede mit ihr“, fordert Elena mit Nachdruck.

 „Das werde ich tun, sicher. Aber ich glaube, ich schaue mir das Häuschen doch einmal an“, sage ich und hole den Katalog. Meine Schritte sind energisch und überraschen mich selbst. Plötzlich ist die Angst wie weggeblasen. Vor Gina brauche ich wirklich keine Angst zu haben, auch wenn sie mir jetzt als Geist erscheint.

 „Rufe doch den Makler an, vielleicht kann er dir weiterhelfen“, ruft mir Elena nach.

 „Nein. Ich werde es mir nur aus der Ferne ansehen. Verbindliches kann noch warten“, kommt von mir und schon sitze ich wieder bei Elena am Tisch.

 Mein Blick klebt an dem Bild, was ein wirklich nettes kleines Haus zeigt. Was kann daran nicht stimmen? Oder ist da gar nichts und Gina will nur sehen, ob ich überhaupt den Mut habe, da hinzugehen und somit die angebliche Prüfung annehme? Ich werde es jetzt nicht erfahren, sondern ich muss den Weg gehen. Ich möchte Gina nicht verärgern und sie am Ende dazu bringen, ständig bei mir zu erscheinen, oder in meinen Träumen herumzuspuken. So gern ich sie auch habe und die schönen Erinnerungen an sie in meinem Herzen trage, sowie den schmerzlichen Verlust, den ich mit sechs Jahren ertragen musste, der mir damals fast das Herz zerrissen hat, möchte ich sie nicht ständig als Geist um mich haben. Darauf habe ich absolut keine Lust, also werde ich mich ihr und ihren Bedingungen vorerst einmal stellen.

 

 

 

 

"Angie - Zwischen Gegenwart und Vergangenheit"

2. Teil meiner Trilogie

 

 

EINS

 

  Ich stehe auf meiner Terrasse, die Arme eng um meinem Körper geschlungen, weil es merklich kälter geworden ist, und ich bin wieder einmal in meinen Gedanken gefangen.

   Es ist Ende November und die Bäume haben endgültig ihr Laub verloren. Die Bäume stehen kahl und ungeschützt dem Wind gegenüber. Vor ein paar Tagen habe ich die ganze Wiese geharkt und das bunte Laub liegt jetzt auf einem großen Haufen. Ich will ihn liegen lassen, damit sich vielleicht Igel ein Lager für den Winter bauen.

 Gerade als ich wieder ins Haus gehen will, weil mich die Kälte eingenommen hat, sehe ich Ranja mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, an mir vorbei schweben. Sofort weiß ich, dass sie etwas im Schilde führt und so ist es auch. Mit einem Mal scheint der Laubhaufen zu explodieren. Hunderte bunte Blätter wirbeln durch die Luft. Ich muss schmunzeln, weil ich das als Kind genauso gemacht habe und es der größte Spaß war.

   Plötzlich sehe ich meine Nachbarin im Augenwinkel, wie sie über die Hecke lunscht. Mein Lächeln erstarrt und in ihrem Gesicht, was jegliche Farbe verloren hat, sehe ich, wie erschrocken sie ist. Ranja wirft alles um sich und das was meine Nachbarin sieht, sind nur die fliegenden Blätter, ohne eine Spur von Wind. Nicht einmal ein kleines Lüftchen weht. Ranja kichert vergnügt, als sie sieht, wie entsetzt die Nachbarin zurück in ihr Haus läuft. Sie macht es ständig und lässt sich den Spaß nicht nehmen, Leute zu erschrecken.

   Ich bin mir sicher, dass die Nachbarin weiß, was bei uns vor sich geht, aber sie hat mir bis heute keine Chance gegeben, mit ihr darüber zu reden.

   Ich sehe Ranja noch eine Weile zu, denn ich bin froh, dass sie sich überhaupt so ausgelassen zeigt. Die letzten drei Monate hat sie sich nur noch in Schweigen gehüllt. Bis heute habe ich nicht erfahren, warum sie nicht mit Tabea ins Licht gegangen ist. Ich kenne weder ihr Problem, was sie hier noch festhält, noch vor wem sie mich beschützen will. Ich höre immer wieder ihre Worte in meinem Kopf, aber ich komme einfach nicht an sie heran.

   Mir wird es jetzt zu kalt und ich gehe in die Küche, wo ich mir einen heißen Kakao mache. Mit dem setze ich mich ans Fenster und beobachte, wie die Wolken am Himmel immer dunkler werden und die ersten Tropfen an meine Fensterscheiben trommeln.

   Ranja ist es wahrscheinlich auch zu ungemütlich geworden, denn sie hat sich wieder auf den Dachboden verkrochen. Ich höre leise Geräusche von oben und kann über sie nur den Kopf schütteln. Dort ist sie in letzter Zeit ständig. Warum sie nicht in ihrem Kinderzimmer ist, kann ich nicht sagen, aber ich vermute, dass sie dort zu sehr an Tabea erinnert wird und sie dadurch noch mehr vermisst.

   Deshalb bin ich wieder allein und sofort halten mich meine Gedanken wieder gefangen. Ich denke an die vergangene Zeit zurück.

 

  Drei Monate ist es her, dass Tabea mit ihrer Mutter ins Licht gegangen ist. Es war gleichzeitig so wunderschön, die Ruhe und den Frieden zu spüren, welche das Licht ausgestrahlt hat, aber auch erdrückend von dem Schmerz den Ranja durchlitten hat. Es war ihre Entscheidung und ich konnte und wollte nicht eingreifen. Sie hat ihre Gründe und sie wird sie mir irgendwann sagen. Ich hoffe es zumindest, denn die Trennung macht sie merklich verletzlicher.

 Sandra ist wieder nach Australien. Sie konnte es nicht ertragen, durch Ranja ständig an die Zeit als Kindermädchen und dem Tod der Zwillinge erinnert zu werden. Sie spürte sie ständig um sich und konnte nicht damit umgehen. Also ging sie nach ihrer Aussage bei der Polizei zurück, dort hin, wo sie sich mittlerweile heimisch und sicher fühlt. Ebenso hat sie sich einen Freundeskreis aufgebaut, der ihr zu jeder Zeit zur Seite steht.

   In meinem Geschäft hat sich nicht viel geändert. Eigentlich gar nichts. Ramona, die für mich eine sehr gute Freundin geworden ist, ist so beschäftigt, dass man sie eigentlich nur früh beim Kommen und abends beim Gehen für einen Moment sieht. Unsere Gespräche sind ziemlich kurz und man redet nur noch über den Laden. Es ist eigentlich schade, denn ich mag sie immer mehr und die magische Verbindung zwischen uns wird immer stärker. Ich sollte daran wirklich etwas ändern.  Vielleicht lade ich sie am Wochenende einmal zu mir nach Hause ein. Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht und so ein gemütlicher Kaffeeklatsch, bei dem nicht gerade schönen Novemberwetter, muss wieder einmal sein.

   Allein bin ich ja nicht. Ranja, na ja, die ist eigentlich nicht da, aber seit einem Monat wohnt Elena, mit der ich unseren kleinen Laden aufgebaut habe, bei mir. Sie hat Sandras Zimmer bezogen, womit Ranja natürlich einverstanden war und ansonsten haben wir jetzt eine ganz normale WG. Sie war richtig froh, aus ihrer alten Wohnung ausziehen zu können, denn mit den Leuten hat sie sich nicht gut verstanden. Sie haben immer darauf herumgehackt, weil sie in dem mysteriösen Geschäft arbeitet. Ebenso konnten sie nicht damit umgehen, dass Elena Karten legt und vielleicht auch mal jemanden die Zukunft voraussagt. Ich sage nur, dass Hexe die angenehmste Bezeichnung für sie war. Elena ist seitdem richtig aufgeblüht und genießt ihre neue Freiheit, die ich ihr hier im Haus gerne gebe, in vollen Zügen.

   Mit der Zeit hat sie sich auch daran gewöhnt, dass in unserem Laden jede Menge Geister und Seelen zu finden sind. Einzige Bedingung von ihr war, dass sie nie allein mit ihnen im Geschäft ist. Das gilt natürlich auch für mein Haus. Da hält Ranja die Geister, die nach mir suchen, auf Abstand zu Elena. Ihr Zimmer ist absolutes Tabu für Geister. Das ließ sich auch bis jetzt alles gut organisieren. Ich will sie auf keinen Fall verlieren. Ich denke auch nicht daran, wie ich das machen soll, wenn Ranja nicht mehr da ist. Noch ist sie da.

   Sie ist dagegen ein ganz besonderes Thema. Sie ist, nachdem wir Sandra zum Flughafen gebracht haben, noch verschlossener geworden. Ich kann mir bis heute nicht im geringsten vorstellen, wie sie sich fühlt. Sie hat ihre Zwillingsschwester gehen lassen. Wie weh muss das wohl tun? Man sollte Zwillinge nie trennen, auch nicht im Tod.

   Seitdem hüllt sie sich, wie schon erwähnt, in Schweigen. Sie geht mir aus dem Weg und so habe ich kaum Gelegenheit, mit ihr zu reden. Ich habe schon mehrmals versucht, wenigstens etwas zu erfahren, aber man bekommt kein Wort aus ihr heraus. Ich kann nicht sagen, ob ich oder sie mehr Angst hat, vor dem was sie mir nicht sagen will. Oder kann sie es nicht? Aber wer oder was könnte sie davon abhalten? Wer könnte mir zur Gefahr werden?

   Ranja ist neuerdings immer öfter mit im Laden und bringt mir Geister, die ich hinüber begleiten soll. Einige davon habe ich schon dazu gebracht, aber ich sehe darin nur den Versuch von ihr, von sich selbst abzulenken.

   Das gelingt ihr in gewisser Weise auch. Ich verbringe die meiste Zeit damit, mich um die Geister zu kümmern, als auf sie einzugehen. Momentan kann ich aber daran nichts ändern, denn wenn ich sie zwingen würde, was ja sowieso nicht geht, weil sie einfach verschwinden kann, könnte ich sie vielleicht schneller verlieren als mir lieb ist. Und wer beschützt mich dann, vor was oder wem auch immer?

   Mein Verhältnis zu Grace, meiner Großmutter, ist auch wieder so, wie vor unserer Auseinandersetzung. Der Besuch bei ihr steckte mir noch lange in den Knochen. Zu erfahren, dass Grace, Ramona und sogar Gina, meine Urgroßmutter, mir nichts über Marc, wie ich dachte meine große Liebe, und seinen Machenschaften erzählt haben, sondern einfach abgewartet haben, was sich bei mir entwickelt, hat mich erschüttert. Dazu wusste ich nie, dass Grace ein Medium ist. Warum hat sie mir das verschwiegen? Es hatte doch sowieso keine Auswirkungen auf das, was für mich vorbestimmt war. Ich kann nur froh sein, das Buch von Gina zu besitzen, denn Grace kann mir nicht helfen, das alles zu verstehen und zu meistern. Letztendlich haben wir noch einmal in Ruhe über alles geredet und ich zweifel ihre Entscheidung, mir nichts gesagt zu haben, nicht mehr an. Erfahrungen am eigenen Leib, sind eben die besten. Daraus lernt man am meisten.

   Eigentlich sollte ich der Erbfolge nach ein Medium sein, aber jetzt kann ich Geister sehen. Soll ich darüber glücklich sein? Wäre ich besser daran, wenn ich ein Medium, wie Grace und Ramona wäre? Diese Fragen habe ich längst für mich selbst beantwortet. Ein Medium zu sein ist genauso anstrengend, ich kann es an Ramona sehen. Sie hat manchmal sogar mehr zu tun als ich. So habe ich mich meinem Schicksal ergeben und versuche seitdem, mein Leben mit der Gabe zu bewältigen. Hilfe kann ich nur wenig erwarten, wer versteht schon mein Leben und diese Gabe.

 

  Ich schwelge in meinen Gedanken und inzwischen ist die Tasse Kakao leer. Ich räume die schmutzige Tasse in den Geschirrspüler und schaue noch einmal in den fast leeren Kühlschrank. Schnell sind einige Sachen auf einen Zettel geschrieben. Ich nehme meinen großen Einkaufskorb und mache mich auf den Weg. Nach dem Einkauf fahre noch in den Laden. Elena ist heute nicht da und ich will Ramona nicht den ganzen Tag allein lassen. So wie ich das Geschäft betrete, ist Ramona auch schon mit einem Lächeln in ihrem Zimmer verschwunden. Mehr bekomme ich wirklich in letzter Zeit nicht von ihr zu sehen. Ich schaue mich um und bemerke, dass sie schon wieder die neue Ware ordentlich eingeräumt hat. So bleibt für mich nicht viel übrig und ich mache mir einen heißen Tee zum aufwärmen, denn die feuchte Novemberkälte hat mich schon wieder eingenommen.

   Ich gehe mit der Tasse nach vorn und öffne die kleine Kiste, die auf dem Tresen steht. Diese hat Ramona für mich übrig gelassen, ansonsten hätte ich ja gar nichts mehr zu tun. Zum Vorschein kommen silberne Ketten und Armbänder mit kleinen Anhängern und Ringe. Alles ist mit den zwölf Sternzeichen in verschiedenen Formen graviert. Das habe ich im Internet bestellt und sie waren auch nicht zu teuer. Ganz unten im Paket finde ich den Ständer, der dazu gehört. Schnell baue ich ihn zusammen und bestücke ihn mit dem neuen Schmuck. Es ist eindeutig ein Hingucker und ich stelle ihn neben der Kasse auf. Dort fällt der Blick der Kunden automatisch darauf, wenn sie bezahlen. Vielleicht geht so auch ab und zu ein Stück davon auf Reisen.

   Zu dem schönen Gefühl, wieder eine gute Entscheidung für meinen Laden getroffen zu haben, mischt sich plötzlich ein Unangenehmes hinzu. Ich kann es nicht richtig deuten und suche den Laden nach Geistern ab. Aber ich finde keinen und so schwenken meine Gedanken, ohne dass ich es beeinflussen kann, zu Elena.

 

 

ZWEI

 

  Elena hat seit etwa zwei Monaten einen Freund. Wo sie ihn kennengelernt hat weiß ich nicht, aber so wie sie sich benimmt, erinnert sie mich an mich selbst. Sie ist genauso verliebt, wie ich es in Marc war. Es gibt da jedoch einen Unterschied, weder ich noch Ramona haben ihn schon einmal gesehen und kennen ihn nicht. Nicht einmal seinen Namen hat Elena uns verraten und so wie es scheint, hat sie auch nicht vor, mir ihn in nächster Zeit vorzustellen. Was sie davon abhält kann ich nicht sagen und hoffe nur, dass sie nicht so enttäuscht wird wie ich es damals war. Das er Elena in Schwierigkeiten bringt, kann ich und will ich mir nicht vorstellen. Das was Marc mit mir veranstaltet hat, war eine ganz andere Situation, mit einem ungeheuren Hintergrund. Etwas ärgert es mich schon, aber Ramona hat da eine Ahnung. Elena hat wahrscheinlich Angst, dass er sich mir zuwenden könnte. Ich glaube jedoch nicht daran, denn warum soll ein Mann, der sich in eine Blondine verliebt hat, einfach so auf eine Rothaarige umsteigen.

   Als ich das so Ramona gesagt habe, hat sie nur gelächelt und mir begreiflich gemacht, es zumindest versucht, was ich für eine Ausstrahlung habe. Meine roten Haare und die grünen Augen wirken magisch. Sie ziehen alle Blicke auf sich und manche bringen sie eben um den Verstand.

 

  Heute hat Elena frei und will mit ihrem Freund einen Ausflug machen. Wohin es gehen soll, weiß ich ebenfalls nicht. Ich gönne ihr von Herzen schöne Stunden, aber ich bin es nicht gewöhnt, dass sie mich so außen vor lässt.

 Seit einigen Minuten kreisen meine Gedanken nur noch um sie, nicht dass ich neidisch wäre, nein, ich habe einfach ein mulmiges Gefühl. Ich schaue ständig auf mein Handy, aber sie meldet sich nicht. Ist sie wirklich so verliebt, dass sie mich ganz vergisst? Sie hält mich eigentlich immer auf dem Laufenden. Nachdem, was mir mit Marc passiert ist, haben wir abgesprochen, dass ich stets weiß wo sie ist, um notfalls eingreifen zu können.

   Ich suche mir krampfhaft Arbeit, um mich abzulenken, aber es will nicht funktionieren. So greife ich in die Schublade und hole meine Karten heraus. Ich versuche, mich auf sie zu konzentrieren, und lege die Karten für Elena auf dem Tresen aus. Mein Blick fliegt hektisch darüber hinweg und ich kann nichts finden, was nach irgendeiner Gefahr aussieht. Die tiefe Liebe zwischen ihnen strahlt in alle Richtungen, überschattet alles andere.

   „Ihr geht es gut“, sagt Ramona, die lächelnd neben mir steht.

   „Das glaube ich auch, und die Karten sagen auch nichts anderes, aber ich habe ein komisches Gefühl“, flüstere ich, als ob uns jemand zuhören könnte.

   „Lenke dich hier mit ab. Es ist wirklich gut und es kann dir vielleicht sogar helfen.“ Ramona reicht mir ein Buch und geht zurück in ihr Hinterzimmer. Woher hat sie schon wieder gewusst, dass ich mir Sorgen mache?

   Mein Blick huscht über das Cover und sagt mir, dass es um Nahtoderlebnisse geht. Warum gerade dieses Buch? Ich beschäftige mich doch mit denen, die schon tot sind und nicht Solche, die bloß mal kurz drüben waren.

   Ich bin nicht ganz davon überzeugt, dass das mir gerade jetzt helfen soll, aber ich werde mal hineinlesen. Nach ein paar Minuten schrecke ich auf, denn Ranja steht vor mir. Was will sie jetzt hier? Hat sie nicht genug mit den Geistern zu tun, um sie von mir fernzuhalten? Sie schaut mich jedoch finster und traurig zugleich an und mir stockt der Atem. Augenblicklich werde ich panisch und eine unbeschreibliche Angst macht sich in mir breit.

   „Du solltest mal mitkommen“, sagt sie nur kurz.

  „Wohin?“, piepse ich und erschrecke gleich noch einmal. Elena steht plötzlich auch mitten im Laden und ihr ganzer Körper, ihre gesamte Kleidung ist voller Blut.

   „Angie, er hat mich einfach versetzt“, sagt Elena und in diesem Moment schießen mir die Tränen in die Augen. Ramona steht neben mir, die das Szenario schon beobachtet hat und stützt mich, denn meine Beine wollen mich nicht mehr tragen.

   „Elena“, schluchze ich. Kein weiteres Wort bekomme ich heraus, denn Elenas Geist steht hier vor mir.

   „Warum weinst du? Er hat mich stehen lassen und nicht dich. Außerdem kennst du ihn doch gar nicht. Oder hast du dich mit ihm getroffen? Ist er deswegen nicht gekommen? Gönnst du mir etwa mein Glück nicht?“ Die Fragen sprudeln aus Elena heraus und ihre Stimme wird immer ernster und verletzter. Mir wird klar, dass sie wirklich Angst hatte, ich könnte ihr den Freund wegnehmen.

   „Sie weiß es nicht?“, fragt Ranja und schaut verständnislos zu mir herüber.

 Elena dreht sich zu Ranja um und starrt sie fassungslos an.

   „Wieso kann ich dich auf einmal sehen?“, kreischt sie Ranja entgegen, aber diese zuckt nur mit den Schultern und sieht mich hilfesuchend an.

   Ich versuche, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken, aber es geht nicht. Mit aller Macht ringe ich um Luft und um Worte, kann aber keine bilden, geschweige denn kommen sie aus meinem Mund. Mein ganzer Körper zittert und ich kann es nicht verbergen.

   Elenas Blick huscht nervös zwischen mir, Ramona und Ranja hin und her. Eine unheimliche Stille legt sich über uns und keiner weiß, wie wir ihr sagen sollen, dass sie nicht mehr lebt. Wieso merkt sie es denn nicht selbst, dass irgendetwas nicht stimmt?

   Aber die Aufklärung nimmt uns jemand ab, denn auf einmal steht ein junger Mann in der Tür. Ein gutaussehender, groß gewachsener Kerl mit einem wunderschönen Lächeln, was seine Lippen umspielt.

   „Ist Elena noch hier? Ich bin Ralf und wir wollten uns hier vor dem Laden treffen.“ Seine kernige Stimme schwebt zu mir herüber und er erinnert mich irgendwie an Marc. In diesen Mann hätte ich mich auch verlieben können. Das hat Elena anscheinend gewusst und mir ihn deshalb noch nicht vorgestellt.

   Ehe ich jedoch reagieren kann, hat Elena ihn gesehen und stürmt auf ihn zu. Sie will ihm um den Hals fallen, aber sie läuft förmlich durch ihn hindurch und er merkt es nicht einmal. Nun steht sie hinter ihm und beginnt wahrscheinlich zu begreifen. Sie schaut an sich hinunter und bemerkt das viele Blut, aber sie scheint diese Situation nicht fassen zu können. Jetzt stellt sie sich neben ihn und versucht seine Hand zu nehmen, was natürlich auch nicht funktioniert. Sie lässt ihre blutverschmierten Hände sinken und schaut zu mir. Gleichzeitig sind auch in ihren Augen Tränen zu erkennen.

   „Sind Sie Angie?“, fragt Ralf und kommt auf mich zu.

   „Ja“, krächze ich.

   „Ist Elena hier?“ Er schaut mich verwirrt und fragend an.

   „Ja und nein“, nimmt mir Ramona die Antwort ab, die aber noch mehr Unverständnis hervorruft.

   „Angie, das kann doch nicht sein. Sag mir bitte, dass ich nicht tot bin.“ Elena steht so nahe bei mir, dass ihr kalter Atem mir ins Gesicht schlägt, während der liebliche Duft ihres Parfüms mir in die Nase steigt.

   „Was soll das heißen?“, will Ralf wissen, der seine Hände auf meinen Tresen abstützt, und mir ebenso nahe gekommen ist.  Seine dunklen Augen sind aufgerissen und schauen mich durchdringend an.

   „Es tut mir leid. Sie ist tot“, sage ich und kann die eigenen Worte selbst nicht glauben.

   „Wie bitte? Sagten sie nicht gerade, dass sie hier ist?“ Ralf wird ungeduldig.

   „Ja, bin ich. Angie sage ihm, dass ich neben ihm stehe“, fleht mich Elena an und jetzt brechen all meine Dämme. Tränen rinnen mir über das Gesicht, wie ein Wasserfall.

   „Was ist denn eigentlich passiert?“, will Ramona wissen.

   „Ich wollte ihm ein Stück entgegengehen, weil ich zu zeitig am Treffpunkt war“, beginnt Elena zu erzählen.

   „Sie ist da vorn über die Straße gegangen. Anscheinend hat sie ein Auto erfasst. Sie liegt noch da und die Polizei hat alles abgesperrt“, platzt Ranja dazwischen, die derweil auf der Suche nach Elenas Körper war.

   „Mich hat jemand überfahren?“ Elena schüttelt den Kopf. Jetzt ist ihr klar, warum sie voller Blut ist. Ich erkenne an ihrem Gesichtsausdruck, dass ihr ein Schrei des Entsetzens im Halse stecken bleibt.

   „Haben Sie weiter vorn auf der Straße einen Unfall bemerkt?“, frage ich Ralf mit zitternder Stimme, der sich auf einer der Stufen gesetzt hat, die hinter ins Büro führen.

   „Ja, ich musste einen Umweg fahren. Deshalb bin ich ja auch etwas zu spät dran.“ Seine Stimme klingt nicht mehr sicher, sondern ist jetzt etwas höher und flattert wie ein Blatt im Wind.

   „Elena bleib hier“, ruft Ranja plötzlich und ist im nächstem Moment zusammen mit ihr verschwunden.

   „Sie wird es nicht verkraften, sich so zu sehen.“ Ramona muss bei ihren Worten auch ziemlich schlucken. Sie hält mich immer noch fest und ich glaube, dass sie sich durch mich auch selbst stützt.

   „Du kannst wirklich Geister sehen?“, fragt mich Ralf und mich stört es nicht, dass er einfach du zu mir sagt.

   „Ja“, kommt nur kurz von mir.

   „Ich habe es ihr nicht geglaubt. Warum muss sie mir denn so zeigen, dass es die Wahrheit ist?“ Ralfs Worte klingen ironisch, jedoch kommen sie bei mir nicht so recht an.

   „Sie hat es nicht absichtlich gemacht“, fauche ich ihn an und er schreckt merklich zurück.

   „So habe ich das doch nicht gemeint. Ich habe sie geliebt. Was denkst du denn, wie ich mich fühle?“, schluchzt er und wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Es ist schon komisch einen Mann weinen zu sehen, aber das zeigt mir, dass er sie wirklich liebt.

   „Sie sieht furchtbar aus. Der Vollidiot war viel zu schnell“, schmettert Ranja in den Raum, aber nur ich kann sie hören. Ramona drückt mich an sich, denn sie hat es von ihren Lippen abgelesen.

   „Wo ist sie jetzt?“, frage ich Ranja, ohne zu bemerken, wie Ralf mich ansieht. Ich rede ja einfach so in den leeren Raum hinein. Seine aufgerissenen Augen suchen den gesamten Laden ab, er findet jedoch keinen Hinweis auf die Anwesenheit eines Geistes.

   „Ist hier noch ein Geist?“, fragt er trotzdem erstaunlich gefasst.

   „Ja, meine Tochter“, platzte ich heraus und Ranjas Augen werden immer größer.

   „Weiß sie wo Elena ist?“, hakt er weiter nach.

   „Das will ich ja gerade herausbekommen“, antworte ich und schaue in das bis hinter beiden Ohren strahlende Gesicht von Ranja.

   „Sie wollte nach Hause. Ich glaube, sie muss das alles erst selbst begreifen“, murmelt Ranja und kann ihren Blick immer noch nicht von mir wegreißen.

   „Sie ist bei uns zu Hause“, gebe ich an Ralf weiter.

   „Und was kann ich jetzt tun?“, will er wissen.

   „Kennst du ihre Schwester? Sie ist die Einzige, die sie noch von ihrer Familie hat“, wende ich mich Ralf ganz zu und hoffe, er nimmt mir die schwierige Aufgabe, ihr Bescheid zu sagen, ab.

   „Ja, es ist eine ganz liebe, wie Elena auch“, schluchzt er und schnäuzt seine Nase. Das Elena Ralf ihrer Schwester vorgestellt hat und mir nicht, nehme ich einfach so hin. Es ist nicht mehr zu ändern und spielt ihr sogar in die Karten.

   „Würdest du dich bitte darum kümmern, dass sie alles erfährt? Und kannst du dich bitte um alles kümmern und mir dann sagen, wann die Beerdigung ist?“, frage ich deshalb ziemlich emotionslos. Sie sind zu zweit und ich habe wirklich keine Kraft dazu, mich um den Körper von Elena zu kümmern. Den letzten Funken brauche ich für zu Hause, dort wo Elenas Geist auf mich wartet.

   „Das kann ich machen. Ich werde mich bei dir melden“, schluckt er die Worte fasst hinunter, bevor sie aus seinem Mund kommen. Er steht auf, bleibt aber an der Tür noch einmal stehen. „Willst du dich nicht von ihr verabschieden?“, fragt er mich jetzt auch ohne ein Zucken im Gesicht.

   „Sie ist bei mir. Wann sie sich von mir verabschiedet liegt ganz allein bei ihr. Aber du könntest ihrer Schwester sagen, dass sie noch bei mir ist.“

   „Weiß sie, was du für eine Gabe hast?“

   „Wir sind praktisch zusammen aufgewachsen. Sie kennt mich und meine ganze Familie. Gib ihr bitte einfach meine neue Adresse, die hast du doch, oder?“

   „Ja, sicher. Dann werde ich mal“, spricht er ganz leise, zwinkert mir noch einmal zu und verlässt den Laden. Die Größe und Schönheit des Mannes und sein selbstbewusstes Auftreten hat sich in Luft aufgelöst. Ein zutiefst gebrochener Mann hat eben mein Geschäft verlassen.

   Die Tür fällt ins Schloss und ich lande auf dem Fußboden. Ramona kann mich nicht mehr halten und sinkt mit mir nach unten. Ich weiß nicht, wie lange wir uns in den Armen liegen, aber jetzt rappeln wir uns auf. Ramona hängt ein Schild in das Fenster, schließt das Geschäft ab und schleppt mich zu ihrem Auto. Ich nehme alles wie durch einen Schleier wahr und finde mich letztendlich auf meiner Couch wieder. Ich höre wie durch einen Nebel, wie Ramona mit Ranja spricht. Sie soll auf mich aufpassen, denn sie müsste einen bestimmten Tee für mich besorgen.

   Nach ein paar Minuten greife ich nach dem Telefon, unter dem kritischem Blick von Ranja. Als sie aber bemerkt, dass ich die Nummer von Grace wähle, greift sie nicht ein. Den Anruf hätte ich mir aber auch sparen können, denn wie ich schon vermutet habe, weiß Grace schon alles. Sie hat es in den Karten gesehen und wollte mich noch warnen, aber es war zu spät.

 Warum habe ich es nicht gesehen? Und warum verdammt noch mal war Grace nicht schneller? Ich hätte Elena von der Straße holen können, ob sie mir geglaubt hätte oder nicht. Aber manchmal ist eben alles vorbestimmt und man kann nicht eingreifen. Aber warum gerade Elena? Meine Gedanken kreisen darum, wie ich es gespürt habe, dass etwas nicht in Ordnung war, aber meine Karten haben es mir nicht gezeigt. Oder bin ich vielleicht doch nicht so gut darin wie Grace. Egal! Es ist vorbei. Das Schicksal ist für jeden von uns vorbestimmt. Ich muss jetzt nur damit klar kommen und versuchen, Elena auf die andere Seite zu bringen.

   Ich falle wieder auf die Couch und meine Augen schließen sich automatisch.

   „Schlaf Mam, ich hab dich lieb“, höre ich aus der Ferne und mir wird schmerzlich klar, dass ich nicht nur eine gute Freundin verloren habe, woran ich zu zerbrechen drohe, denn sie ist wie eine Schwester für mich gewesen, sondern der schwerste Gang, in naher Ferne noch vor mir steht. Ranja. Ich glaube, ich kann sie nicht gehen lassen, ich habe sie nicht umsonst meine Tochter genannt. Sie ist voll in meinem Herzen eingeschlossen und es würde mich zerreißen.

   Momentan wird mir aber alles zu viel und so lasse ich mich in den nahenden Traum, oder Alptraum fallen.

"Angie - Das Familienband"

3. Teil meiner Trilogie

 

EINS


 Es sind über drei Monate vergangen, in denen ich versucht habe, alles was passiert ist zu verarbeiten.
Aber das Gegenteil ist der Fall, ich habe es bis heute nicht geschafft. Mein Leben ist förmlich zum Stillstand gekommen und ich fühle mich irgendwie ausgelaugt.
 Ich sitze hier, wie seit Tagen und Wochen, verloren in meinem Gartenstuhl, in der warmen Julisonne und kann sie kaum genießen. Um mich herum blühen Blumen in allen erdenklichen Farben, ohne dass ich etwas dafür tun muss. Sie zeigen wie damals die Liebe, die mit Mell und dem Haus verbunden ist, jedoch berühren sie in letzter Zeit nicht mein Herz. Es fühlt sich wie erdrückt an und hat sich irgendwie verschlossen von den vielen Ereignissen.
Alles begann letztes Jahr mit diesem Haus. Ich liebe es wirklich, aber momentan gibt es mir nicht die Wärme und Geborgenheit, wie es eigentlich sein sollte, oder ich mir vorgestellt habe. Meine Gedanken hängen fest und ich komme nicht von ihnen los.
 Der Weg bis hier her war nicht leicht gepflastert. Einige Stolpersteine brachten mich ins Wanken und als Erstes war es die Prüfung, die ich von meiner Familie auferlegt bekam. Ich habe sie angenommen und in meinen Augen auch sehr gut gemeistert. Schnell habe ich mich damit abgefunden, mein Leben von nun an mit Geistern zu verbringen. Jedoch hat mich niemand darauf vorbereitet, wie schwer es ist, sie hinübergehen zu lassen. Dafür bin ich jetzt zuständig und bei den meisten gelingt es mir auch, aber da gibt es auch welche, die einen ans Herz gewachsen sind. Und das waren auch noch die Ersten, die ich kennengelernt habe.
 Die Zwillinge Ranja und Tabea waren am Ende wie meine eigenen Kinder und sie haben sogar Mama zu mir gesagt. Sie sind beide gegangen und ich bin mir sicher, dass sie dort, wo sie jetzt verweilen, bei ihrer richtigen Mama, sehr glücklich sind. Mit ihnen habe ich viel erlebt, habe ihnen Wünsche erfüllt und sogar ihren Tod aufgeklärt. Sie haben mir auch einiges beigebracht, was ich im Umgang mit anderen Geistern gut verwenden kann. Ich lerne zwar immer noch, vor
allem aus Ginas Buch, aber die praktischen Erfahrungen mit den Zwillingen waren viel prägender. Und das, was sie hinterlassen haben, trage ich tief in meinem Herzen. Durch sie habe ich viel Liebe gespürt, aber auch Verrat und Betrug erfahren. Meine erste große Liebe hat sich als ein riesengroßer Fehler entpuppt. Er hat mich verletzt und ausgenutzt. Er war der Mörder der Mädchen und wollte am Ende auch mich umbringen. Nur weil ich zu viel wusste.
 Als er sich selbst umgebracht hat und sich bei mir verabschieden wollte, merkte ich, dass da wirklich Liebe im Spiel war. Wir hatten jedoch nie eine Chance. Er hat im Sinne der Tante der Zwillinge gehandelt und ihm stand es nicht zu, sich in mich zu verlieben. Was natürlich nicht geklappt hat, mich aber auch nicht besänftigen konnte. Er hat mir das Herz gebrochen und daran ändert auch ein Eingeständnis, auf der Schwelle des Todes, von ihm nichts daran.
 Dann wurde mein Herz auf die nächste Zerreißprobe gestellt. Tabea ist zu ihrer Mama auf die andere Seite gegangen. Der Verlust war schwer, aber ich hatte ja noch Ranja. Sie hatte immer noch etwas zu erledigen. So konnte ich mit ihr noch Zeit verbringen, wenn es auch nicht lange war, aber wir gingen gemeinsam auf die Suche nach ihrem Vater. Den
fanden wir auch, aber er wollte nichts von den Kindern wissen. Ranja ist erstaunlicherweise sehr vernünftig damit umgegangen, wobei ich es nie verstehen werde, wie man seine eigenen Kinder verleugnen kann.
 Es war eine schöne Zeit, allerdings nur bis Angelo erschien. Er ist ein Seelenfänger und hatte die Order, Ranja hinüber zu holen, weil sie schon zu lange auf unserer Seite wandelte. Aber Ranja wollte und musste mich vor jemanden beschützen. Ich verstand sie nicht und auch das Geheimnis um diese Person gab sie zuerst nicht preis.
 Und dann ist da noch Ramona. Ich lernte sie auf dem Spielplatz kennen und sie hat ebenso eine Gabe wie ich. Sie ist ein Medium, aber sie kann auch Geister sehen. Nur damit hat sie ein Problem. Sie kann sie sehen, jedoch nicht hören und somit auch nicht mit ihnen reden. Sie bat mich um Hilfe und gleichzeitig bot sie mir ihre an. In meinem Laden waren viele Seelen, die ich nicht sehen konnte, jedoch sie als Medium. So haben wir uns zusammengeschlossen und
arbeiten seitdem gemeinsam in meinem Laden.
 Elena, meine beste Freundin, mit der ich den Laden führte, war sofort damit einverstanden, denn sie konnte weder Geister noch Seelen wahrnehmen und war froh, dass wir sie vor ihnen beschützten. Obwohl beide den Menschen nichts tun. Zumindest habe ich es bis dahin gedacht. Dass es auch anders gehen kann, sollte ich noch erfahren.
 Aber die schlechten Ereignisse sollten nicht aufhören. Durch einen Unfall verlor ich Elena. Mein Herz konnte es kaum verkraften, das ist bis heute so. In dieser schlimmen Zeit zeigte sich, dass Ramona mir ebenso eine gute Freundin ist. Es schweißte uns zusammen, bis der nächste Bruch kam. Ramona wurde von einem Geist bedrängt, den ich dann versuchte, auf die andere Seite zu bringen. Das tat er auch, aber er wollte erst ein Geheimnis von Ramona lüften. Es stellte sich heraus, dass es auch Ramona war, vor der mich Ranja schützen wollte. Aber warum?
 Dieses Geheimnis ließ mich denken, dass sich alle und alles um mich herum verschworen hatten. Letztendlich erfuhr ich, dass Ramona meine Mutter ist und nach mir gesucht hatte, damit ich ihr bei den Geistern helfen kann. Sie hat mir damals ihre Gabe übertragen, um in Ruhe und ohne das Familienvermächtnis zu leben, aber sie bekam dafür
die Quittung. Sie hatte nun beides und konnte schon seit langem nicht mehr damit umgehen.
 Der Geist an ihrer Seite war dementsprechend mein Vater, den ich nie kennenlernen durfte. Er hatte jedoch noch etwas, was ihn abhielt, zu gehen. Ramona soll noch ein Geheimnis haben, bei dem nur ich ihr helfen kann. Für mich fast zu viel und so wollte ich das alles zum Abschluss bringen. Angelo, den ich nie richtig mochte und vertrauen konnte, kam mir da entgegen und versprach mir zu helfen.
 Ranja und mein Vater haben uns verlassen und versuchen wohl, auf der anderen Seite ihren Frieden zu finden. Bei Ranja bin ich mir da sicher, aber was meinen Vater betrifft, kann ich es nur hoffen. Ranja zeigte mir zuvor, durch Auflegen der Hände und Übertragung der Gedanken, noch das Licht, in das die Geister immer gehen. Es ist für uns Menschen unsichtbar und es zeigte mir, dass ich stets sicher sein kann, dass die, die dort hineingehen, ihren verdienten Frieden finden werden. Es ist unbeschreiblich und ich werde dieses warme Leuchten wohl nie vergessen.
 Dass aber dieses Wissen mir zur Gefahr werden kann, konnte ich nicht ahnen. Als nun auch Ranja weg war, stand ich allein da und es lag wieder ein Geheimnis in der Luft. Von Angelo erfuhr ich aber noch, dass Gina von all dem weiß, aber sogar ihn angewiesen hat, nicht einzugreifen. Er bot mir an, in der nächsten Zeit Geister, die zu mir wollen, aufzuhalten, damit ich erst einmal wieder zu mir kommen konnte und meine innere Ruhe, die ich unbedingt brauchte,
wiederzufinden.
 Diese habe ich aber bis heute noch nicht vollständig wiedergefunden. Der Alltag hat mich schneller eingeholt, als ich dachte. Ich gehe täglich in meinen Laden und versuche, einen normalen Umgang mit Ramona zu pflegen. Angelo hat sein Wort gehalten, denn es sind keine Geister mehr auf mich zugekommen. Das hilft mir jedoch auch nicht richtig
weiter, denn die plötzliche Stille um mich herum, macht mich irgendwie nervös. Ich habe keine Ablenkung mehr und komme so immer wieder in den Kreislauf der Gedanken und Fragen.
 Ramona hüllt sich seit Monaten in Schweigen und ich sehe sie nur kurz am Morgen, wenn sie in ihrem Beratungsraum verschwindet. Am Abend ist es nicht anders und sie gibt mir kaum eine Gelegenheit, mit ihr zu reden, geschweige denn, das zwischen uns stehende Geheimnis anzusprechen. Aber seit ein paar Tagen ist etwas anders. Sie hat mich gefragt, ob ich einverstanden bin, dass sie dreimal in der Woche schon mittags gehen kann. Auf meine Frage nach dem Grund, sah sie mich lächelnd an und meinte, dass sie mir demnächst alles erklären würde.
 Handelt es sich hier um ihr Geheimnis? Wo geht sie an den Nachmittagen hin? Trifft sie sich mit jemandem? Sie geht auch schon mal zu ihren Kunden, aber nicht so regelmäßig. Irgendetwas stimmt hier nicht. Und das hat offensichtlich nichts mit ihrer Arbeit als Medium zu tun. Ich war natürlich damit einverstanden und warte nun schon wieder fast drei Wochen auf ihre Erklärung.
 Wie kann ich sie nur dazu bringen, mir endlich etwas zu sagen? Kann ich sie zwingen? Aber wie sollte ich das machen? Ich habe auch Angst, sie dadurch verlieren zu können. Aber wie lange soll ich noch warten? Kann mir vielleicht Grace dabei helfen? Oder Gina? Aber mit Gina kann ich keinen Kontakt aufnehmen und vielleicht hat sie auch Grace beeinflusst, genauso wie Angelo. Anscheinend stecken sie alle unter einer Decke und nur ich weiß nicht, worum es hier eigentlich geht.
 Mir hat es wirklich im letzten Jahr ein paar Mal den Boden unter den Füßen weggezogen und ich kann nur hoffen, dass es bei dem Geheimnis von Ramona nicht wieder so ist. Es wird langsam kühl, ich schaue auf die Uhr und erschrecke. Es ist schon nach neun Uhr abends und mein Magen macht sich lautstark bemerkbar. Die Sonne ist schon untergegangen und die Blüten einiger Blumen schließen sich auch schon für die Nacht. Ich habe wieder einen ganzen Nachmittag mit diesen Fragen im Kopf verbracht und wieder habe ich keine Lösung gefunden.
 Morgen ist Montag und Ramona hat abermals einen ihrer freien Nachmittage. Kurz entschlossen, zumindest für diesen Moment, werde ich in dieser Zeit den Laden schließen und zu Grace fahren. Ich hoffe, sie kann mir helfen und vielleicht finden wir zusammen einen Weg, dass Ramona uns endlich in ihre Geheimnisse einweiht. Vorausgesetzt, sie ist nicht
zum Schweigen verdonnert. Mit dieser Hoffnung mache ich mir noch etwas zu essen und mache es mir mit einer warmen Decke auf der Couch gemütlich. Nach einer Stunde gehe ich schließlich, einsam und allein, wie die ganze letzte
Zeit, ins Bett.


ZWEI


 Ramona hat soeben, pünktlich um 13 Uhr, den Laden verlassen. Mit einem ziemlich erzwungenen Lächeln schloss sie die Tür hinter sich. Was soll ich davon halten? Wo geht sie nur hin? Mir kommt es vor, als würde ihr der Weg schwerfallen
oder es nagt an ihr selbst, mir immer noch nichts gesagt zu haben. Warum tut sie es dann nicht? Vielleicht könnte ich ihr wirklich helfen. Ihre Augen sehen in letzter Zeit immer so traurig aus. Irgendetwas muss ihr sehr nahe gehen. Aber was nur? Schon wieder kreiseln die Fragen in meinem Kopf herum. Deshalb werde ich jetzt den Laden abschließen und zu Grace fahren. Ich will gerade meine Tasche von hinten holen, wozu ich aber nicht komme, weil Angelo plötzlich hinter mir steht und sein Blick sagt mir, dass ich jetzt nicht fahren werde.
 „Wo willst du denn hin?“, fragt er und stellt sich mir in den Weg. Eigentlich könnte ich einfach durch ihn hindurchgehen, ich weiß, dass es geht, aber ich habe es noch nie getan. Die Angst vor einem Stromschlag hält mich davon ab. Wer weiß, wie groß der bei Angelo wäre. Er hat noch mehr Energie in sich, als es die Zwillinge je hatten.
 „Lass mich in Ruhe, ich muss dringend zu Grace“, fahre ich ihn stattdessen an. Seine Augen funkeln mich jedoch böse an und somit weiß ich, er hat etwas vor.
 „Hallo, ich habe dir geholfen und nun brauche ich mal deine Hilfe“,sagt er und hält komischerweise seine Hände schützend vor sich, als könnte ich ihm gefährlich werden. Mein Tonfall war wahrscheinlich nicht richtig gewählt und eigentlich will ich mich auch nicht mit ihm anlegen.
 „Ich habe aber keine Zeit“, sage ich jetzt etwas leiser, aber immer noch konsequent.
 „Grace kann warten. Du musst mir jetzt helfen, ansonsten lasse ich alle Geister auf dich los, die ich zurückgehalten habe“, droht er mir und ich sehe ihm an, dass er es durchaus ernst meint.
 „Es geht um Ramona. Ich muss wirklich dringend zu Grace“, sage ich nun etwas ängstlich, denn seine eisblauen Augen versenken jeden Widerspruch, den ich erwäge zu erheben, ins Nichts.
 „Ich weiß, was du vor hast. Aber Grace wird dir nicht helfen können. Und auf einen Tag mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an“, knurrt er und ich bin mir wieder einmal sicher, dass er viel mehr weiß, als er je zugeben würde.
 „Ich muss es zumindest versuchen“, widerspreche ich, entlocke ihm aber nur ein hämisches Lächeln.
 „Pass auf. Wenn du mir jetzt hilfst, dann bin ich bei Grace mit dabei. Ob es etwas bringt, weiß ich jedoch nicht und kann ich dir auch nicht versprechen“, hält er dagegen.

 „Grace kann dich nicht einmal sehen. Wie willst du mir dann helfen?“, frage ich ärgerlich.
 „OK, das stimmt. Aber bitte, höre dir wenigstens an, was ich von dir will“, bettelt er und ich weiß, dass er nicht locker lassen wird. Außerdem sollte ich mich geschmeichelt fühlen, wenn ein Seelenfänger von mir Hilfe möchte.
Ich setze mich also hin und warte auf das, was da kommen mag. Angelos Augen blitzen zufrieden auf und er macht es sich auf meinem Tisch bequem.
 „Ich bin kurz davor, einen jungen Mann zu verlieren. Ich soll ihn hinüberholen, aber er weigert sich. Ich habe Angst, dass er in die andere Richtung geht. Er ist über zwölf Jahre hier und hat sein Problem bis heute nicht gelöst“, erzählt er mir.
 „Welches Problem hat er denn?“, frage ich, obwohl es mich kaum interessiert und ich noch in meinen Gedanken festhänge.
 „Er sagt es mir nicht. Ganz im Gegenteil. Jedes Mal wenn ich ihn frage, erscheinen die dunklen Geister und er verschwindet. Ich weiß nicht, ob mit ihnen oder aus Angst vor denen“, erklärt er mir.
 „Und du weißt nicht wohin? Haben die dunklen Geister etwas damit zu tun? Was sind eigentlich die dunklen Geister?“ Die Fragen purzeln plötzlich nur so aus mir heraus und gleichzeitig hat er mein volles Interesse geweckt. Ramona ist augenblicklich vergessen.
 „Eins nach dem anderen“, beginnt Angelo wieder.
 „Er will nicht auf mich hören und die dunklen Geister sind eindeutig schon hinter ihm her. Er glaubt mir einfach nicht, dass es besser wäre in das Licht zu gehen“, redet er weiter und holt tief Luft. „Was die dunklen Geister angeht, kann ich dir nicht sagen, wo sie her kommen oder sich aufhalten. Genauso wenig, wo sie die hinbringen, die wir verlieren. Aber sie werden von Seelenfängern geleitet, die für die andere Seite arbeiten und sie ernähren sich von der Energie
der Geister. Je mehr sie für sich gewinnen, um so stärker werden sie“, schließt er mit einem Schulterzucken und traurigen Augen ab.
 „Woran erkennt man die anderen Geister?“
 „Die sehen etwas anders aus“, antwortet Angelo gezwungen.
 „Wie?“, hake ich nach.
 „Fast wie Zombies. Dunkele Augenringe und rot unterlaufene Augen. Ihr Blick spricht für sich. Wenn du einen siehst, erkennst du ihn bestimmt sofort. Die Seelenfänger wirst du aber nicht unterscheiden können. Von denen musst du dich fernhalten. Aber das wird kein Problem werden, denn sie zeigen sich fast nie. Sie schicken immer nur die Geister, die sie
schon haben.“
 „Dieser junge Mann ist aber noch keiner von ihnen?“, frage ich und Angelo schüttelt den Kopf.
 „Er hat aber nicht mehr viel Zeit“, sagt er nur kurz.
 „Wie soll ich ihn denn überzeugen ins Licht zu gehen?“
 „Du musst ihm sein Problem entlocken. Vielleicht kannst du ihm dabei helfen es zu lösen. Und dann kann er auch gehen, und zwar in die richtige Richtung“, antwortet Angelo und sieht mich eindringlich an.
 „Und was mache ich, wenn die anderen kommen?“, frage ich ängstlich weiter, denn ich will mit Zombies, falls es welche gibt, nichts zu tun haben.
 „Ich werde immer bei dir sein und versuchen, die Bösen von dir fernzuhalten, wenn du mit ihm sprichst“, nickt Angelo mir aufmunternd zu und scheint sicher zu sein, dass ich nicht mehr umdrehe, sondern auch ein wenig von meiner Neugierde getrieben werde.
 „Und wo finde ich ihn? Wie heißt er? Und wo hat er früher gewohnt?“, plappere ich los. Je schneller ich ihn finde und ihm helfen kann, um so eher kann ich mich um meine Probleme kümmern. Dass sie hierdurch noch größer werden, kann ich ja nicht wissen.
 „Er heißt Timo und wir finden ihn bestimmt auf dem Friedhof“, antwortet Angelo und übergeht ebenfalls die Gefahr, die auf mich zukommen könnte.
 „Wieso auf dem Friedhof? Vielleicht finden wir da schon sein Problem? Ist er an einem bestimmten Grab?“
 „Ja, das von seiner Frau.“
 „Sie ist auch tot?“, frage ich und Angelo greift sich an den Kopf.
 „Hm, aber sie ist hinübergegangen. Was ihn trotzdem noch hier hält, müssen wir herausbekommen“, lächelt Angelo, als hätten wir den Fall schon gelöst.
 Meine Freude hält sich allerdings in Grenzen, denn ob er mit mir reden wird, steht noch in den Sternen. Und die dunklen Geister machen mir viel mehr Angst, als ich mir eingestehe.
 „Lass uns gehen“, fordere ich Angelo auf, nehme meine Tasche und schließe den Laden ab.
 In Kürze bin ich an meinem Auto, wo Angelo schon auf mich wartet. Gemeinsam fahren wir zu dem Friedhof, der ziemlich weit außerhalb der Stadt liegt. Er ist sehr groß und ohne Angelos Hilfe würde ich mich vielleicht noch verlaufen.
Angelo schwebt vor mir her bis zu dem entsprechenden Grab. Es ist voller Blumen und wird liebevoll gepflegt. Die Inschrift auf dem Stein lässt mich stocken. Da liegt eine junge Frau begraben, die nicht älter war als ich, gerade einmal vierundzwanzig. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und suche dann mit den Augen die Gegend ab. Ich bin
vollkommen allein hier. Ich sehe weder gute noch böse Geister, nur Angelo steht plötzlich wieder vor mir.
 „Kannst du etwas mit dem Namen anfangen?“, fragt er mich und ich erinnere mich daran, wie ich auch über Mell einiges im Internet gefunden habe.
 Ich hole einen Zettel aus meiner Tasche und suche noch einen Kugelschreiber. Kurz darauf finde ich ihn und schreibe mir den Namen und die Daten der Frau auf. Gerade als ich den Zettel wieder einstecken will, erscheint vor mir ein Mann und sieht mich finster an. Seine Augen sind noch normal, zumindest ist er noch kein Zombie. Aber der große muskulöse Körper kann einem schon Angst einjagen.
 „Was soll das? Was willst du von meiner Frau?“, zischt er mich böse an. Ich schaue zu Angelo, der mir nur zunickt und so weiß ich, dass Timo vor mir steht.
 „Ich will dir helfen“, kommt sehr leise von mir, aber ich bin mir sicher, dass er mich versteht.
 „Wieso kannst du mich sehen? Du bist doch keine von uns?“, fragt er und mustert mich ziemlich genau.
 „Ich bin Angie und habe die Gabe, mit Geistern reden zu können. Ich kann sie sehen und ihnen helfen, ins Licht zu gehen“, antworte ich, aber das war wahrscheinlich schon zu viel, denn er ist augenblicklich verschwunden.
 „Du hättest nicht gleich mit dem Licht kommen dürfen. Jetzt hast du ihn verjagt“, schüttelt Angelo neben mir mit dem Kopf.
 „Mach´s doch besser“, fauche ich ihn an und verlasse auf dem schnellsten Weg den Friedhof. Erst an meinem Auto taucht er wieder auf.
 „Was willst du jetzt machen? Das Handtuch werfen?“ Er steht vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt, und sieht mich grimmig an.
 „Nein. Ich möchte etwas über die Frau herausbekommen und dann verstehen wir ihn vielleicht besser“, kontere ich und zeige ihm mit einer wedelnden Handbewegung, dass er mir aus dem Weg gehen soll.
 Kurz darauf sitze ich zu Hause auf der Couch und habe den Laptop auf meinem Schoß. Ich gebe den Namen der jungen Frau ein und finde eine Webseite von ihr. Dina Seller war eine Künstlerin. Sie hat gemalt und man kann ihre Bilder online kaufen. Die Seite ist sogar nach zwölf Jahren noch frei geschalten und ganz hinten finde ich nicht nur ihre alte Adresse, nein, auch einen weiteren Namen. Sabine Riecke. Wer mag sie wohl sein? Auch ihre Adresse steht da und so werde
ich als Nächstes zu ihr fahren. Ehe ich es mit Timo aufnehme, muss ich mir einen Überblick über das Leben des jungen Paares machen. Ich finde weder eine Todesanzeige, noch etwas anderes Interessantes über sie, was meine Fragen beantwortet. Ich hoffe nur, dass diese Sabine mir helfen kann.
 Ich gebe die Adresse in meinem Navi ein und mache mich sofort auf den Weg. Angelo ist immer in meiner Nähe und beobachtet jeden Schritt, den ich mache. Mir soll es recht sein, denn etwas Angst habe ich schon vor den dunklen Geistern oder einem anderen Seelenfänger, der vielleicht etwas dagegen hat, dass ich Angelo helfe.
 Nach einer Viertelstunde stehe ich vor einem Mehrfamilienhaus, das auf den ersten Blick wirklich eine Renovierung nötig hätte. Aber ich bin hier in einem Stadtteil, in dem alle Häuser so aussehen. In den Häusern sind Geschäfte und Ateliers, von allem etwas. Ich komme mir vor, als wäre ich in einem Künstlerviertel. Vieles was es hier gibt, ist eindeutig handgemacht und voller Fantasie. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich jetzt durch die Läden spazieren und mich inspirieren lassen, aber ich muss diesen Fall zu Ende bringen, damit ich mich um Ramona kümmern kann.
 Kaum denke ich an sie, sind auch wieder alle Fragen in meinem Kopf. Irgendwie bin ich doch mehr mit ihr verbunden, als ich zugeben will. Ich bin wieder besorgt um sie, denn ihre Augen sind nicht mehr so leuchtend grün, wie sie eigentlich sein sollten. Das muss sich schnellstens wieder ändern, denn glücklich ist sie nicht, jedenfalls momentan nicht.
 „Was ist? Willst du nicht klingeln?“ Angelo holt mich in die Realität zurück und ich schlucke die Traurigkeit, die in mir aufgestiegen ist, weg.
 „Ich brauche noch einen kleinen Moment“, sage ich und schlendere zu dem Laden, der im nächsten Haus ist. Ich schaue mir nicht wirklich die Dinge im Schaufenster an, nein, ich denke an Ramona und ich fühle den Schmerz, den sie gerade fühlen muss. Es drückt mein Herz zusammen und das Atmen fällt mir schwer. Ich schließe die Augen und bekomme fast
gleichzeitig heftige Kopfschmerzen. Ich kann mich gerade noch festhalten, damit ich nicht stürze, denn mir zieht es fast die Beine weg.
 Ich sehe Blitze und dann bin ich an einem Ort, den ich noch nie gesehen habe. Ein wunderschöner Park liegt vor mir und ein Weg aus feinen Kieselsteinen, eingesäumt von hohen, wahrscheinlich sehr alten Pappeln. Langsam gehe ich auf ein großes Gebäude zu. Es sieht wie eine übergroße Villa aus dem letzten Jahrhundert aus und es führt eine lange Steintreppe zu ihr hinauf. Kurz bevor ich oben ankomme, sehe ich ein Schild. Auf dem steht „Klinik für Neuro...“. Ich komme nicht dazu, auch wenn ich versuche, mich anzustrengen es zu Ende zu lesen, denn eine kalte Hand legt sich auf
meine Schulter. Gleichzeitig fährt ein Stromschlag durch meinen Körper hindurch.
 „Angie, alles in Ordnung?“, höre ich neben mir jemanden fragen und ich erkenne Angelos Stimme. Ich öffne die Augen und der hämmernde Kopfschmerz verschwindet, wenn auch nur zögerlich. Ich sehe zu Angelo, der mit ängstlich funkelnden Augen neben mir steht.
 „Wo warst du?“, will er wissen und ich massiere erst einmal meine Schläfen. Das tut gut und ich komme wieder richtig zu mir.
 „Ich glaube, ich hatte wieder eine Vision“, sage ich und setze mich auf die unterste Stufe des Ladeneingangs.
 „Was hast du gesehen?“, fragt Angelo neugierig und setzt sich gleichzeitig zu mir.
 „Ich habe durch Ramonas Augen geschaut“, kommt von mir, ohne weiter darüber nachzudenken. Wer sollte es sonst gewesen sein? Ich habe an sie gedacht und war mit ihr automatisch verbunden.
 „Schade“, flüstert Angelo enttäuscht.
 „Was?“, murmele ich, denn ich will hier nicht für verrückt gehalten werden. Selbstgespräche kommen meistens nicht gut an.
 „Ich dachte, du warst in Timos Gedanken. War es wenigstens etwas Gutes, was du gesehen hast?“
 „Wie man es nimmt. Sie ist irgendwo in einer Klinik. Ich konnte nicht alles lesen, weil du mich zurückgeholt hast“, sage ich etwas vorwurfsvoll.
 „Tut mir leid. Aber vielleicht ist es gar nicht so, wie es aussieht“, nuschelt er und wendet sich von mir ab.
 „Ob sie krank ist?“, denke ich laut.
 „Das musst du sie schon selbst fragen.“ Jetzt klingt Angelo zynisch und ich sehe ihn ernst an.
Geister haben doch auch Gefühle. Warum ist er dann so abweisend? Geht ihm das wirklich am Allerwertesten vorbei? Oder will er nur seinen Fall gelöst haben?
 Was ist, wenn Ramona wirklich krank ist und sich nicht traut, es mir zu sagen? Was kann ihr nur fehlen? Welche Klinik war das nur? Und der schöne Park. Welches Krankenhaus hat so etwas heute noch? Ich muss diese Klinik finden. Ich falle in meine Gedanken und suche nach der Vollendung der Worte auf dem Schild. Ich vergesse dadurch die Zeit und lasse mich auch nicht von Angelo stören. Ich schalte ihn einfach aus.